Vivian Dittmar: beziehungsweise

Die fundamentale Botschaft (die zugleich so alt wie die Menschheit selbst ist), die die Seminarleiterin und Mutter von zwei Söhnen Vivian Dittmar uns nach Unabhängigkeit und Autonomie strebenden Individualisten in ihrem neuen Buch mitteilt, ist: »Wir brauchen andere Menschen, um glücklich zu sein.« Das klingt zunächst wenig verlockend, klingt im besten Fall nach Symbiose und naivem Gutmenschentum, im schlimmsten Fall nach der Hölle der Abhängigkeit, nach Beziehungssucht und Ohnmacht, nach Schwachheit und Beziehungstrauma.

Dabei ist es zunächst mal eine simple Tatsache, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, der über Beziehungen und Kontakt sozialisiert wird und der für seine gesunde seelische und körperliche Entwicklung als Mensch auf ein Netz von tragfähigen Beziehungen angewiesen ist. Tatsache ist aber auch, dass der heutige Mensch in der globalisierten Postmoderne immer weniger echte Kontakte und Beziehungen zur Verfügung hat (Stichworte sind hier Digitalisierung, Auflösung von sozialen Strukturen und Rationalisierung in der Arbeitswelt) und soziale Bedürfnisse über Sucht kompensiert (überwiegend über Konsum).

Die gesellschaftlichen Folgen der Flucht in die Unabhängigkeit sind Vereinsamung, Depressionen und Selbstmorde auf der einen und zunehmende Gewalt, Aggression und asoziales Psychopathentum wie Amokläufer auf der anderen Seite. Die Frage ist, wie wir Beziehungen leben können, wenn wir heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen allein klarkommen? Die Autorin gibt in diesem wunderbar klaren und gut strukturierten Buch darauf sehr einfache, praktikable und weise Antworten, die meiner Meinung nach die Wurzel allen Übels benennt: Wir brauchen Beziehungen auf Augenhöhe, die von Respekt und Wertschätzung geprägt sind, und zwar in allen Bereichen des Lebens, nicht nur in Partnerschaften, sondern in den Schulen, in den Betrieben und in der familiären Erziehung.

Um Beziehungen auf Augenhöhe (also ohne Machtgefälle) leben zu können, gibt es 25 sehr gute Übungen, denn ohne Selbsterforschung allein, zu zweit oder in einer Gemeinschaft wird es nicht gehen. Fundamentale Erkenntnisse brachten mir die Übungen »Dialog zwischen deinem unabhängigen und deinem abhängigen Teil«, »Konflikttypen erforschen« und als zentrale Übung, die Mitgefühl fördert: »Unterstützendes, aktives Zuhören«.

Wie wir Beziehungen in ein dynamisches Gleichgewicht bringen können, wo es keine Machtpotentiale und keine Konsumpotentiale, sondern nur noch Bedürfnispotentiale gibt, erklärt uns die Autorin in dem zentralen Kapitel »Beziehung in Balance«. Die meisten Auslöser und Trigger für den Teufelskreislauf aus endlosem Streit, Kritik und Vorwürfen entstehen nämlich aus den Wunden der Kindheit, die unbewusst und ungeheilt sind und immer wieder aufplatzen, wenn sie nicht angeschaut und bewusst gemacht werden. Die Verlassenheitswunde entsteht daraus, dass uns in der Sozialisation zu viel Raum gegeben wurde (Stichworte sind hier Vernachlässigung, kein emotionaler Kontakt, Abwesenheit von Bezugspersonen), die Vereinnahmungswunde entsteht daraus, dass uns in der Sozialisation zu wenig Raum gegeben wurde (Stichworte sind hier Kontrolle, Gewalt und Bevormundung). In vielen von uns sind beide Wunden aktiv. Sie können nur geheilt werden, wenn sie offengelegt werden.

Die Idee des Erwachsenseins bedeutet also nicht, niemanden zu brauchen, sondern ein Gleichgewicht in mir zu tragen zwischen brauchen und nicht brauchen, zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit, zwischen Autonomie und Verbundenheit.


Vivian Dittmar: beziehungsweise: Beziehung kann man lernen, 320 Seiten, 17,50 €  

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