Karl-Heinz Brisch: Bindungsstörungen

Nicht repräsentativen Umfragen zufolge leiden 40 Prozent der Menschen in Deutschland (und damit wahrscheinlich im gesamten westlichen Kulturkreis) an „Beziehungsstörungen“. Damit sind nicht temporäre atmosphärische Störungen wie nach einem Streit gemeint, sondern Störungen im primären, genetisch verankerten Bindungssystem des Menschen, dass im Säugling in gewisser biologischer Präformiertheit nach der Geburt aktiviert wird und im Bezug zur primären Bezugsperson eine überlebenssichernde Funktion hat.

Die Bindungstheorie des englischen Arztes und Psychoanalytikers John Bowlby, entstanden in den 50iger Jahren des 20. Jahrhunderts, ist inzwischen durch zahlreiche empirische und prospektive Längsschnittstudien eine der am besten fundierten Theorien über die psychische Entwicklung des Menschen und inzwischen Grundlage jeder fundierten Psychotherapie. Die Bindungstheorie besagt, dass Mutter (oder primäre Bezugsperson) und Säugling Teilnehmer an einem selbstregulierendem System sind, dessen Teile sich wechselseitig bedingen.

Die Bindungstheorie beruht auf der Annahme, dass Menschen ein angeborenes Bedürfnis haben, enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen. Sie befasst sich mit den grundlegenden frühen Einflüssen auf die emotionale Entwicklung des Kindes und versucht, die Entstehung und Veränderung von starken gefühlsmäßigen Bindungen zwischen Individuen im gesamten menschlichen Lebenslauf zu erklären.

Entwickelt sich im Säuglingsalter eine sichere Bindungsqualität (etwa durch Feinfühligkeit der primären Bezugsperson), wird dies als ein wesentlicher Faktor angesehen, der im späteren Leben vor der Entwicklung einer Psychopathologie schützen kann, selbst wenn im Verlauf des Lebens traumatische Erfahrungen gemacht wurden. Gehen die primären Bezugspersonen nicht adäquat auf die Bedürfnisse des Säuglings ein, entstehen Störungen im Bindungsverhalten, die im späteren Leben mehr oder weniger ausgeprägt das Bindungsverhalten bestimmen.

Bei der Typologie von Bindungsstörungen unterscheidet Brisch den desorganisierten Bindungstyp, der gar kein Bindungsverhalten aufweist, den unsicher-vermeidenden Bindungstyp, der weder ängstlich noch ärgerlich über das Fortgehen der Bindungsperson ist, aber mit erhöhtem Stresspegel reagiert und den unsicher-ambivalenten Bindungstyp, der ängstlich-widerstrebend auf seine Bezugspersonen reagiert.

Bindungsstörungen machen sich durch folgendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen bemerkbar: Erstarren inmitten der Bewegung, Autismus, soziale Promiskuität (lassen sich auch von Fremden trösten), häufige Unfälle, Stürze und Verletzungen, exzessives Klammern, übermäßige Anpassung, übermäßige Aggression, Rollenumkehrung (Kind verhält sich seiner Bezugsperson gegenüber überfürsorglich), Suchtverhalten und psychosomatische Symptome (wie z. B. Wachstumsverzögerung, Eß-, Schrei- und Schlafstörungen).

Der deutsche Psychoanalytiker Karl Heinz Brisch darf mittlerweile als einer der bedeutendsten Analytiker weltweit gelten, der jenen wichtigen Ansatz von John Bowlby, dem Begründer der Bindungstheorie, weiter entwickelte und auch für pädagogische und andere psychotherapeutische Bereiche wie systemische Familientherapie und kognitive Verhaltenstherapie fruchtbar machte. Brisch entwirft die Prinzipien einer bindungsorientierten Psychotherapie, stellt das Konzept der Feinfühligkeit und der kindlichen Bindungsqualität vor, gibt sehr viele anschauliche Behandlungsbeispiele aus der klinischen Praxis und einen Ausblick auf seine Präventionsprogramme SAFE und BASE. Alles in allem ist dieses Buch der Bindungsstörungen ein Standartwerk für jeden Therapeuten, der bindungsbasiert arbeiten möchte, aber auch für Sozialarbeiter, Erzieher und Eltern ein unverzichtbarer Schatz.


Karl-Heinz Brisch: Bindungsstörungen – Von der Bindungstheorie zur Therapie, Klett-Cotta, 1999, 378 Seiten, 34,95 € 

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